„Konstruktion des Unsichtbaren“ entwickelt

Vertrauen in die Berechnungen der
Klima-Ingenieure ist gut, Kontrolle besser. Getreu diesem
Motto wurde der Versuchsstand mit der originalgetreuen
Doppelglasfassade zum wichtigsten Stück auf der
Riesenbaustelle des „Stadttor“ genannten
Hochhauses. „Rund 2,5 Millionen Meßdaten wurden
erfaßt, die Auswirkungen von Sturm, Gewitter, Regen,
Sonnenschein, plötzlichem Wechsel der Witterung
aufgezeichnet“, berichten Karl-Heinz Petzinka und
Thomas Pink, die Architekten des Hochhauses.

Das Ergebnis, das nach mehrmonatigen Berechnungen eines der
größten Spezialcomputer in Stuttgart herauskam, war
eine Bestätigung der Theorie: Das Stadttor kann ohne
klassische Klima-Anlage auskommen.

Das einfache physikalische Prinzip, nach dem Luft sich
hinter einer Glaswand erwärmt, aufsteigt und automatisch
kühle Luft nach sich zieht, benötigt allerdings eine
komplizierte Regelung in dem riesigen Haus mit der
Doppelfassade. Die Sonne wandert, Hitzestaus in einzelnen
Etagen sind möglich. „Für den gleichmäßigen
Austausch wurden deshalb auf jeder Etage steuerbare
Lüftungsklappen eingebaut, die auch bei sehr niedrigen
Luftgeschwindigkeiten Temperaturausgleich
ermöglichen“, so Pink. Um dieses Problem zu lösen,
wurden eigens Flugzeugbau-Technik genutzt.

Dynamisches System

Allein der Luftzug zwischen innerer und äußerer
Fassade hält die Räume nicht gleichmäßig warm. Das
„Stadttor“ muß vielmehr klimatisch als
Gesamtsystem betrachtet werden. Computer und Lampen
heizen Räume auf, Boden und Decken können Wärme
speichern, selbst Jalousien mehr oder weniger warmes
Sonnenlicht reflektieren. Für ein gleichmäßiges Klima
wurden deshalb auch die Decken als Heiz- und Kühldecken
ausgebildet. 8000 Quadratmeter können warme Luft über
Wärmetauscher abkühlen und umgekehrt. Für den
Wärmetausch wird Grundwasser beziehungsweise Fernwärme
genutzt, eine große Heizungsanlage entfällt.

Der wichtigste Grundsatz dabei: Die Technik darf
eigentlich nicht zu spüren sein, in den Büros müssen
sich die Mitarbeiter und Besucher so frei wie in einem
Einfamilienhaus bewegen können. „Der eine fühlt
sich beispielsweise nur bei offenem Fenster wohl, der
andere mag keinen Zug“, meint Petzinka. Wegen der
Klimatisierung dürfe keiner strengen Regeln unterworfen
oder gegängelt werden. Deshalb werde im
„Stadttor“ auf ein „Dynamisches
System“ gebaut. Und die Technik hierfür solle nicht
auffallen. „Wir konstruieren das Unsichtbare“,
faßt Pink den Grundsatz der Gestaltung zusammen.

Das gilt nicht nur für die Klimatechnik, sondern auch
für das gesamte Aussehen des Bürohauses. Damit die
außergewöhnlichen Stahlrohre der Konstruktion sichtbar
bleiben, wurden die Röhren zum Brandschutz nicht
ummantelt, sondern mit stabilisierendem Beton
ausgegossen. Und damit die große Glaswand im Atrium
nicht wegen der vielen Stützen häßlich wird, wurde
eine neue, filigrane Aufhängung entwickelt, die sich
automatisch nachspannt.

Niedrige Energiekosten

Der Aufwand wurde nicht allein wegen des eleganten
Aussehens oder wegen des Umweltschutzes getrieben,

sondern auch aus Kostengründen. Denn im Gegensatz zu
einem normalen Hochhaus sind die Energiekosten beim
„Stadttor“ laut Petzinka nicht höher als in
einem Einfamilienhaus.

Zum Sparprogramm gehört übrigens auch die
Modellfassade. Sie wurde nach den Messungen nicht
abgebaut, sondern dient als Versuchskaninchen für eine
einfache, wassersparende, personalarme neue Putztechnik
der Fassade.

Erschienen in: Rheinische Post vom 24.05.97

Von: Michael Brockerhoff

Thomas Busskamp ( Fotos)