Glas macht stabil

Das neue Düsseldorfer Stadttor bringt verbrauchte Energie
sofort zurück

In der Frühe sieht es aus wie ein Eisblock und
funkelt in der Morgensonne, polarblau. Abends leuchtet es
von innen. Nach dem Willen der Stadtoberen und dank der
kühnen Formfindung des Architekten trägt es ab sofort
die schwere Bürde symbolischer Existenz auf den
gläsernen Schultern: das achtzig Meter hohe,
neunzehngeschossige Stadttor am Südrand der
Düsseldorfer Innenstadt – ein neues, ein weiteres
Wahrzeichen in einer an Landmarken nicht gerade armen
Skyline.

„Stadttor“: das ist natürlich eine
strategische Übertreibung zu Werbezwecken. Denn was sich
so vorwitzig in die Ahnengalerie berühmter Stadtentrees,
Triumphbögen oder Wolkenbügel einschmuggeln will, ist
– mit zwei gläsernen Bürotürmen samt
darüberliegender, dreigeschossiger Attika –
komplett von einer zweiten, dünnen Glasmembran umgeben:
Durchfahrt unmöglich. Strenggenommen handelt es sich
allenfalls um ein Tor zur Unterwelt, denn das
Architekturbüro Petzinka, Pink & Partner hat den
Eisblock kühn über eine Tunneleinfahrt gesetzt, die zur
unterirdischen Rheinuferstraße führt.

Es geht aber gar nicht ums Durchfahren und noch
weniger darum, auf eine städtebauliche Achse Bezug zu
nehmen, wie das bei der Grande Arche de La Défense der
Fall ist, dem überdimensionalen Zwilling des Arc de
Triomphe am westlichen Stadtende von Paris. Es geht
vielmehr um ein Bild, das sich nur dem inneren Auge
vorstellt: das Tor zur Zukunft. Und um Träume von einer
glücklicheren Medienwelt, in der leistungsfähige
Medienarbeiter mit leistungsfähigen Prozessoren immer
mehr Leistung bringen.

Wie im Internet wird suggeriert: Zugang für alle.
Glasfassaden, helle Holzverkleidung, Durchsicht. Dabei
ist es gar nicht so einfach, durch Tunnelbauten, über
Parkebenen und Brücken oder von Abgaswolken verfolgt zu
ebener Erde in das Haus hineinzugelangen – eine
Folge der ungewöhnlichen Grundstückslage. Der Solitär
ist eine Zentrifuge für Düsseldorfer Stadtvisionen des
21. Jahrhunderts. Visionen, die im Tiefflug auf das
Glastor zusausen, eine gewagten Schlenker durch den
fünfzig Meter hohen Schacht zwischen den Bürotürmen
vollziehen und dann weiterrasen ins digitale Zeitalter.

Nicht zufällig steht das neue Hochhaus unweit des
neuen Medienviertels am ehemaligen Zoll- und
Handelshafen. Dieser neue Prestige-Standort für
Werbeagenturen, Künstler und Medienunternehmen ist
zugleich ein typischer Querschnitt zeitgenössischer
Architektursprache, von windschiefen,
pseudodekonstruktivistischen Kulissen über aalglatten
Investorenkästen bis hin zu aufgemotzten Hafenspeichern.
Alles superschick hier. Wie Platinen auf einem Chip sind
die Neubauten hintereinander gestaffelt. Geballte
Prominenz unter den Architekten: David Chipperfield,
Frank Gehry, Steven Holl, Till Sattler, Claude Vasconi
oder Christoph Ingenhoven.

An seiner Nordseite begrenzt Petzinkas Torbau zusammen
mit dem Landtag, dem Fernsehturm und dem Rheinufer den
neuen Bürgerpark. Das Bauwerk dominiert seine Umgebung
schon wegen seiner Höhe und vor allem durch die
ungewöhnliche, scharfkantige Form. Der Grundriß ist
nicht, wie bei den meisten Torbauten, ein Rechteck,
sondern eine Rhombe mit zwei spitzen und zwei stumpfen
Winkeln. Darüber erhebt sich ein schnittiger Block, der
ohne Zweifel windkanaltauglich wäre. Wer hineintritt,
sollte schwindelfrei sein. An den Wänden einer schmalen,
fünfzig Meter hohe Schlucht – dem
Frischluftreservoir des Hauses, 60 000 Kubikmeter passen
hinein – kleben filligrane Balkone, die zu den
Bürotrakten führen. Schreitet man sie entlang wird man
urplötzlich mit Querverstrebungen dicker Stahlrohre
konfrontiert: das Trageskelett des Hauses, das frei im
Raum steht. Die wuchtigen Türme aus Stahl sind nichts
für sensible Gemüter.

Angesichts der waghalsigen, nicht ohne Stolz
vorgeführten Konstruktion, die auch nach außen optische
den Torcharakter verdeutlicht, tritt der heimliche Clou
des Hochhauses in den Hintergrund: Es arbeitet mit den
Elementen. Wasser, Licht und Luft gehören zur
Architektur wie Stahl, Glas und Holz. Es ist intelligent,
dieses Haus! Sensomotorisch gesteuert, paßt es sich dem
äußeren Klima an, und auch die Doppelfassade –
angeblich Wärmepuffer-Zonen zwischen innen und außen
– ist in die Schaltkreise integriert. Nie soll es
wärmer werden als 28 Grad Celsius. So könnte man bis zu
45 Prozent Energie sparen, versprechen die Planer.

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der erste
Fernsehthriller im neuen Stadttor gedreht wird. An
mangelnden architektonischen Sensationen sollte die Idee
nicht scheitern. Ein literarisches Vorbild gibt es schon:
Philip Kerrs Roman Gridiron (in Deutschland
rätselhafterweise mit dem Titel Game over
ausgeliefert). Dort bringt der Zentralcomputer eines
„intelligenten“ Wolkenkratzers seine Insassen
um – beispielsweise durch Kälteschock. An den
Tastaturen festgefrorene Medienarbeiter: kein
uninteressantes Bild. Dann wäre das Torhaus schließlich
das geworden, wonach es jetzt schon manchmal aussieht:
ein Eisblock.

Erschienen in: Süddeutsche Zeitung vom 27. /28.
Dezember 1997

Von: Holger Liebs